Daniel Stein (UA)

Schauspiel nach einem Roman von Ljudmila Ulitzkaja
Uraufführung der Bühnenfassung von Heike Müller-Merten

Besetzung: Daniel Stein – Victor Calero // Junger Daniel Stein/Benjamin Schimes – Heiner Bomhard // Avigdor Stein/Major Reinhold – Konrad Singer // Ewa Manukjan/Debora Schimes – Iris Melamed // Rita Kowacz/Esther Hantman – Frank Albrecht // Hilda/Milka – Stephanie Schönfeld // Mussa/Vernehmer – Bozidar Kocevsky // Pawel/Oberst Semjonowitsch/Gerschon Schimes – Mathias Lodd

Regie: Thomas Krupa
Bühne, Kostüme & Video: Jana Findeklee, Joki Tewes
Musik: Sven Hofmann
Licht: Cajus Ohrem
Dramaturgie: Heike Müller-Merten

Theater Freiburg 2013

Originalbeitrag für das Programmheft:

Zeitkapseln

In den 80er Jahren hat Ewa eine folgenreiche Begegnung in ihrer Wahlheimat Amerika: Sie trifft Esther, eine in Polen geborene Jüdin, Holocaust-Überlebende wie sie selbst. Der Zufall will es, dass beide Frauen, obwohl sie unterschiedlichen Generationen angehören, dieselbe Geschichte teilen. Aber Ewa – weil sie Kind war – hat keine Erinnerung daran, weder an die Zeit im Ghetto, wo sie gezeugt wurde, noch im Partisanenlager, wo sie mit ihrer Mutter als Baby hinkam und wie durch ein Wunder am Leben blieb. Die Mutter schwieg und Ewa hat sich im Hass auf diese ideologisch verbohrte lieblose Frau eingerichtet.
Esthers Erscheinen macht Ewas Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit unausweichlich. Darin spielt ein Mann eine zentrale Rolle, dem beide ihr Leben verdanken: Dieter Stein.
Hier beginnt die Erinnerungs- und Forschungsarbeit der Nachfahren. Eine Gruppe von Schauspielern inspiziert einen fiktiven Nachlass, in Kartons verpackt, wie die „Zeitkapseln“ in Andy Warhols factory. Schicht für Schicht enthüllt sich ihnen eine alte fremde Geschichte, die zunehmend von ihnen Besitz ergreift, sich mit ihnen verschränkt, ins Heute reicht.
Dem Protagonisten Dieter Stein sind Züge des polnischen Juden Oswald Rufeisen eingeschrieben; er ist die zentrale Figur in Ljudmila Ulitzkajas epochalen Roman. Rufeisens dramatische Überlebensgeschichte hat die gängigen politischen und historischen Täter-Opfer-Schemata gesprengt und die Druckwelle hält an: Ein Jude, der gezwungenermaßen bei den Deutschen Faschisten diente und seine Stellung dafür nutzte, Juden vor der Vernichtung zu retten, der verraten wurde und von einem deutschen Offizier des Tötungskommandos Gelegenheit zur Flucht erhielt, der von russischen Partisanen mit dem Tod bedroht wurde, entzieht sich einer ideologisch geführten Geschichtsdeutung.
Auch hinsichtlich seiner Glaubensauffassung scheint Daniel Stein in kein Raster zu passen: Der durch die Morde an seinen jüdischen Mitbürgern traumatisierte junge Mann findet zum katholischen Glauben und geht nach Israel, um als Seelsorger zu arbeiten, aber er besteht darauf, Jude zu sein.
In ihrem fiktionalen und vielschichtigen Romankonstrukt lässt Ulitzkaja einen Großteil von Figuren über Jahrzehnte zwischen Staaten der ehemaligen Sowjetunion, Polen, den USA und dem Nahen Osten agieren.
Heike Müller-Mertens Romadaption stellt das Wirken von Pater Daniel Stein in seiner Kirche in Haifa zwischen 1960 und 1995 ins Zentrum.
Durch die Hölle gegangen und wiedergeboren lebt er den Traum von der Gründung einer zukunftsweisenden Gemeinschaft, die Christen und Juden als Glaubensbrüder vereint. Diese kümmern sich gemeinsam um die Lösung sozialer Probleme für die Schwachen und Bedürftigen, von denen es im Einwanderungsland Israel viele gibt und immer neue geben wird.
Dabei gerät Daniel schnell zwischen alle politischen und religiösen Fronten; der Sechstagekrieg und der Beginn der ersten Intifada verschärfen das Klima im Land und der israelisch – palästinensische Konflikt wird zur allgegenwärtigen Wunde, die sich nicht schließen lässt.
Da scheint kein Raum zu sein für eine Sekte von Träumern, die in arabischen Kirchen christliche Gottesdienste in hebräischer Sprache abhält. Irritierte Mitbürger, befremdete Ordensbrüder, kirchliche Institutionen in Jerusalem beargwöhnen das Treiben dieses kleinen Mannes mit dem großen Sendungsbewusstsein. Die römische Kurie muss reagieren …  Die Gemeindemitglieder geraten durch äußere Umstände in menschliche oder politische Konfliktlagen und Zerreißproben. Dabei werden Glaubensfragen zwischen Orthodoxie und Liberalität auf ihre Möglichkeiten und Grenzen hin untersucht und die kommunistische Ideologie als Glaubensersatz hinterfragt.
Ungeachtet aller Anfechtungen versucht Daniel zu beweisen, dass es am Ende immer Menschen sind, die ihren Glauben vertreten und damit prägen. Dass Religion nie abstrakt existiert.
Und obwohl es im Roman wie im Stück kein glückliches Ende gibt, wollen wir den Traum erzählen, ihn verteidigen, wie auch den Glauben, den es möglicherweise zur Realisierung braucht.

© Heike Müller-Merten

Trailer (externer Link):