Der Marienthaler dachs (UA)

von Ulf Schmidt
Textfassung: Heike Müller-Merten und Volker Lösch

Besetzung: Medium – Gábor Biedermann // Vater Staat –  Günter Franzmeier // Mutter Konzern – Claudia Sabitzer // Tochter Gesellschaft – Nadine Quittner // Der kleine Mann – Thomas Frank // Herr Knecht – Sebastian Klein // Milchmädchen – Evi Kehrstephan // Hauptmann Bleibrecht Weber – Kaspar Locher // Bürgermeister Dieter Oben – Martin Schwanda // Opa Rosemarie – Haymon Maria Buttinger // Oma Gustav – Lilly Prohaska // Andi Arbeit – Jan Thümer // Siegrid aus Hagen – Steffi Krautz // A1, A2, A3, A4 – Wolf Danny Homann*, Dominik Puhl*, Martin Esser*, Niklas Maienschein* // Chor der Wiener Arbeitslosen: Roland Cerwenka, Michael Fomin, Stefanie Frauwallner, Max Goritschnig, Markus Gutfreund, Manuela Hauer, Ruth-Luisa Herzog, Suzie Lebrun, Imke Nachbaur, Magdalena Plöchl, Renata Prokopiuk, Andreas Radlherr, Susanne Rendl, Regina Schindelegger, Karl-Josef Schober, Katrin Sippel, Georg Franz Wendel, Christian Wintersperger, Stefan Wurmitzer

*Schauspielstudierende des 3. Jahrgangs der Universität Mozarteum Salzburg

Regie: Volker Lösch
Bühnenbild: Carola Reuther
Kostüme: Teresa Grosser
Chorleitung: Christine Hartenthaler
Licht: Paul Grilj
Dramaturgie: Heike Müller-Merten

Volkstheater Wien 2015

Hintergrundinformation zum Stück

Der Marienthaler Dachs, bezogen auf die berühmte soziologische Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“, ist ein alle Dramakonventionen sprengendes Textkonvolut. Der Autor Ulf Schmidt schrieb es auf einer Papier-Rolle, 70 Zentimeter breit und 20 Meter lang, mit 4-5 parallelen Handlungsorten und -strängen, die den Leser/Besucher einladen, „sich von Ort zu Ort zu begeben“. 2014 erhielt der Ulf Schmidt den Autorenpreis des Heidelberger Stückemarktes.

Heike Müller-Merten und Volker Lösch transponierten die Textinstallation in eine Analogfassung für das Volkstheater Wien und verschränkten diese mit aktuellen Wirklichkeitserfahrungen von Wiener Arbeitslosen. 

Originalbeitrag für das Programmheft (Auszug):

Das Erbe von Marienthal

Zu Beginn der 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts sind sie ausgezogen, eine Handvoll idealistischer junger Wissenschaftler/innen, um empirische Feldforschung zu betreiben in der Fabrikarbeitersiedlung Marienthal, jenem Vorort von Wien, dessen Bewohner/innen aufgrund der Schließung eines weitverzweigten Textilbetriebes quasi über Nacht als „Arbeitslose von Marienthal“ traurige Berühmtheit erlangten.
Es hätte dem Wunschdenken der politisch engagierten jungen Sozialforscher/innen entsprochen, wenn die 1.500 von Dauerarbeitslosigkeit Betroffenen sich in der Not solidarisiert und ihr Klassenbewusstsein geschärft hätten. Das Gegenteil war der Fall. In bitterer Armut lebend, zogen sich die einstmals so stolzen Marienthaler/innen in Resignation und Verzweiflung zurück. Der soziografische Versuch Die Arbeitslosen von Marienthal des Forscherteams um Paul Lazarsfeld, Marie Jahoda, Lotte Schenk-Danziger und Hans Zeisel erschien 1933 und schrieb Wissenschaftsgeschichte.
Mehr als 80 Jahre später analysiert der Theaterautor Ulf Schmidt in einer vielschichtigen Parabel die Zusammenhänge von Arbeits-, Wirtschafts- und Finanzwelt im Mikrokosmos eines fiktiven Gemeinwesens – das er nicht zufällig „Marienthal“ nennt.
Zwischen Vater Staats Familienanwesen, dem Marktplatz und der Nord- und Südbank lungern Arbeitslose aller Altersgruppen. Vater Staat ist konzeptionslos, denn Mutter Konzern schafft es nicht mehr, die Wirtschaft anzukurbeln. Beider konsumversessene Tochter Gesellschaft kommt ihren Verpflichtungen nicht nach, der Kleine Mann bleibt auf der Strecke. In seinem Turm, hoch über allen, thront der Da(x)chs, dem die Marienthaler/innen bedingungslos ihre Opfer bringen. Sein Sprachrohr ist das Medium, das über die prekäre Großwetterlage orakelt und die Forderungen des allmächtigen Dachses formuliert. Dessen nervöse Befindlichkeit dirigiert das öffentliche Leben.

Es gibt keine Arbeit mehr, dabei haben doch alle im einstmals so glücklichen Sprengel ihren Selbstwert daraus bezogen. Längst sind die letzten Haustiere der braven Bürger/innen in fremden Suppentöpfen verschwunden. Als zu allem Unglück die Talsperre zu brechen und eine braune Flut sich über die Einwohner zu ergießen droht, wird der Schuldige für die Misere rasch ausgemacht. Bürgermeister Dieter Oben (Die-da-oben) fällt dem Lynchmob zum Opfer, und schon werben rivalisierende Heilsbringer um politische Anhängerschaft.
Siegrid aus Hagen, die Verkörperung neoliberaler Entfesselung, misst sich im Wahlkampf mit dem Zugereisten Andi Arbeit, der vergeblich auf den solidarischen Zusammenhalt innerhalb der Gemeinschaft setzt. Inspiriert von Siegrid aus Hagens Wettbewerbsphilosophie wirtschaften Milchmädchen und Herr Knecht auf eigene Rechnung und krempeln das Finanzwesen um, während Hauptmann Bleibrecht, der Hüter von Recht und Gesetz, gemeinsam mit Vater Staat die Bevölkerung markttauglich macht.
Aber die auf Pump zum Laufen gebrachte Wirtschaft lässt sich nicht dauerhaft sanieren. (…) Wenn das Frustrationspotential ein bestimmtes Level erreicht hat, werden die Fremden aus Josefsthal zu prädestinierten Sündenböcken …
Was bei Ulf Schmidt als groteske Parabel daherkommt, findet konkrete Entsprechung in den Selbstaussagen eines Bürger/innenchores.
Die Inszenierung verschränkt die Handlungsebene der märchenhaft anmutenden Figuren aus einem fiktionalen Marienthal mit authentischen Bekenntnissen von zwanzig Wiener/innen ohne Arbeit.

© Heike Müller-Merten