Liebesgrüße aus Temeswar (UA)

Eine Biografie im Spiel – das Leben des deutsch-ungarischen Schauspielers Julius Vollmer

Besetzung: Mr. J. – Julius Vollmer // Miss Moneypenny & Engel – Iris Melamed // Tatjana Romanowa – Marie Bonnet // Chris Paulsen – Charlotte Müller

Buch & Regie & Video: Klaus Gehre
Bühne & Kostüme: Marta Ormian
Sound & Musik: Sven Hofmann
Mitarbeit Buch & Dramaturgie: Heike Müller-Merten

Theater Freiburg 2012

Originalbeitrag für das Theatermagazin

Liebesgrüße aus Temeswar - Eine Biografie im Spiel

Frühling 2012. Nach dreistündigem Flug betreten wir den Boden des Banats. Der drahtige Taxichauffeur heizt durch flache Landschaften, vorbei an fruchtbaren Feldern. Die Puszta ist nah.
Als Julius Vollmer Rumänien 1983 verließ, sah es hier anders aus.
Milch gab es nur auf Zuteilung; wegen Benzinmangels wurde der Abstecherbetrieb des 1953 gegründeten Deutschen Staatstheaters Temeswar eingestellt. Massenabwanderungen von Ensemblemitgliedern ließen das Repertoire schrumpfen. Den Winter verbrachten die Bewohner der Stadt in dunklen, ungeheizten Wohnungen, in Mützen und Jacken gehüllt. In der Stadt, in der die abendliche Beleuchtung der prachtvollen Straßen und Plätze erfunden wurde, war es 100 Jahre später zappenduster. An letzteren Umstand erinnern sich alle Gesprächspartner, die wir auf der Reise befragen: Von der Wärmezufuhr abgeschaltet – Trauma und Bild der Erstarrung.
Regisseur Klaus Gehre, mit pastellfarbenem Basecap und Kamera, und ich, mitverschworene Dramaturgin mit Diktiergerät in der Handtasche, kreuzen auf den Spuren unseres Kollegen Julius Vollmer durch die zweitgrößte Stadt Rumäniens. Wir sind da, wo der in Temeswar gebürtige Deutsch-Ungar Theater spielte, bis man ihn wegen seines Ausreiseantrags aus dem Ensemble entfernte. Da, wo er sich auf Friedhöfen als Sänger auf Beerdigungen verdingte. Da, wo er in der marmornen Familiengruft seine geliebte Schwester, ebenfalls Schauspielerin, mit trotziger Behauptung unter ihrem vollen Namen beerdigte – eine Von Szabo. Jahrzehntelang war der Familienname der Von Szabos Synonym für „ungesunde Abstammung“, wie es das kommunistische System verklausulierte.
Die Koordinaten seines Lebens leiten uns durch die einstmals prachtvollen Meierhöfe – hier wurde der blondgelockte Erstgeborene für ein Leben als deutschstämmige Ausnahmeerscheinung erzogen – bis seine jüdischen Spielgefährten verschwanden und ihm der „Arm herunter fiel.“
Hier, im Garten vor der elterlichen Holzhandlung, versteckte er sich im Erdloch vor den Deportationen, die die Rumänen 1945 den Deutschen verordneten. Von einer Nacht zur anderen wurde ihm seine Herkunft, das blaue Blut, die großbürgerliche Abstammung zum Makel – sein Leben war fortan eine Anpassungsleistung an extreme, ideologisch motivierte Grundsätze einer unberechenbaren Diktatur. Als Theaterschauspieler Vollmer, Mann mit den vielen Gesichtern, überlebte Szabo-Sathmaryn in Rollen. Unversehens lassen uns die Umstände der Sechs-Tage-Reise zu Geheimagenten in eigener Sache werden. Schnelle Erkenntnis: Wer fragt, stört. Also muss man sich Zugänge verschaffen.
Es gibt nicht die einfache Wahrheit. Nirgendwo. Hier ist das Schweigen mit Händen zu greifen.
„Es rächt sich, wenn man nie angefangen hat, zu reden. Hier im Banat, in Rumänien, wurden zwei Diktaturen totgeschwiegen“, gesteht eine Frau mit müdem Gesicht, eine Schauspielerin. Das klingt anders, durchlässiger, als der Vorsatz einer Kollegin: „Wir wollen das Schöne in Erinnerung behalten.“ Oder die Behauptung: „Opfer waren wir alle, wir Deutschen.“ (Was so nun wirklich nicht zutrifft; viele Deutsche hatten mit der gefürchteten Securitate und ihrer Nachfolgeorganisation zusammengearbeitet, auch nach ihrer Ausreise.) Oder die gedruckten Appelle der damaligen Wende- Intendantin: „Wir müssen zamme halte.“ (Was schwerfallen dürfte, wenn der Tod vieler Mitbürger ungesühnt blieb.)
Uns Spurensucher verwirrt der Kontrast – in einer pulsierenden und schon europäisch anmutenden Stadt gibt es keine Vergangenheit. Wir suchen sie im Gespräch mit Leuten, in Buchläden. Sogar Kunstführer blenden Jahrzehnte zwischen 1899 und 1989 aus. Ein überteuertes Buch in deutscher Sprache, Sepiadruck, bemüht sich um historische Darstellung – räumt immerhin die Revolution im Dezember ein. Dazu fünf Fotos aus Privatarchiven. Revolution? Putsch des Militärs? Weit gehen Meinungen und Deutungen auseinander, erfahren wir. „Gibt es hier ein stadtgeschichtliches Museum mit Ausstellungen zur jüngeren Geschichte?“ – glockenhelles Lachen erfolgt anstelle einer Antwort.
In der Architektur jedoch ist die Vergangenheit anwesend.
Dass in den Dezembertagen die Kugelhagel über den Platz zwischen Theater und Kathedrale pfiffen, bezeugen die noch nicht restaurierten Häuserfassaden. Dass mehr als hundert Menschen auf den Stufen zur Kathedrale ihr Leben verloren, abgeknallt wurden, was vom Balkon des Theaters wie von einer Loge zu besichtigen war, wer kann davon erzählen? Erleichtert verweisen die Jüngeren auf ihre Jugend. Mürrisch lenken die Älteren ab.
Julius Vollmer hat den Aufstand von Temeswar von Deutschland aus im Fernseher verfolgt – unerlöst, zerrissen zwischen brüllendem Heimweh und dem guten Gefühl einer äußeren Sicherheit, das sich aber im Inneren nie so ganz einstellen will.
Das Archiv im Temeswarer Staatstheater dokumentiert Inszenierungen und Rollen. Sonstige Akten stehen in einem Schrank im Rücken des Intendanten. Der Intendant hat ein Ceaucescu-Porträt als gerahmte schwarz-weiß Grafik im Zimmer. Das Bild mit dem süßlichen Porträt des „Großen Conducators“ im Intendantenbüro ist ein Requisit, für die bevorstehende Inszenierung von Herta Müllers „Niederungen“ – das erfahren wir nach 60 Minuten Gespräch. Eine erlösende Information. Klaus hat inzwischen die Buchtitel im Dramaturgiebüro gefilmt – laufende Meter die „Klassiker des Kommunismus“, viele Bände Ceaucescu. Keine Requisiten.
Alle Büroräume des deutschen Staatstheaters, das in Temeswar um sein Überleben kämpft, haben vergitterte Türen. Mit Vorhängeschloss. Ein Theater mit Türgattern. Warum? Julius kann sich an Gitter nicht erinnern. Julius ist inzwischen 85 Jahre alt. Aber auch Johann Lippet, Dichterfreund von Herta Müller, und Richard Wagner, Mitglied der Aktionsgruppe Banat und seinerzeit Dramaturg am deutschen Staatstheater bis 1987, zeigt ebenfalls Verwunderung auf meine Frage. Sie müssen später angebracht worden sein.
Wer hat Angst vor wem? Sicher ist nur so viel: Die Stadt Temeswar, einstiges in K+K-Architektur verpacktes städtebauliches Kleinod, und mit ihr das Staatstheater, suchen ihre Identität.
Und wir, die Rechercheure, suchen weiter nach Julius Vollmer, den Mann mit den vielen Leben. Manchmal ist die Suche bedrückend. Manchmal komisch. Und manchmal schmeckt das Ganze nach James Bond. Ein Stoff für das Theater.

Liebesgrüße aus Temeswar“ ehrt einen ungewöhnlichen Menschen und Schauspieler. Ein Jahr vor seinem Tod spielte Vollmer, vollständig erblindet, seine eigene Rolle.

© Heike Müller-Merten