Medea

mit Motiven aus der Trilogie „Das Goldene Vlies“
Von Franz Grillparzer

Besetzung: Medea – Stefanie Reinsperger // Jason/Phryxus – Gábor Biedermann // Gora – Anja Herden // Kreon – Günter Franzmeier // Kreusa – Evi Kehrstephan // Aietes/Herold der Amphiktyonen – Michael Abendroth // Absyrtus – Michael Köhler // Die junge Medea – Sarah Pritchard-Smith, Luana Otto // Medeas Kinder – Philip Bauer, Nikolaus Baumgartner, Oskar Salomonowitz, Simon Stadler-Lamisch, Johannes Brandweiner

Regie: Anna Badora
Bühnenbild: Thilo Reuther
Kostüme: Werner Fritz
Musik: Klaus von Heydenaber
Licht: Támas Bányai
Video: Paul Grilj
Dramaturgie: Heike Müller-Merten

Volkstheater Wien, 2016

Originalbeitrag für das Programmheft:

Die Jagd nach dem Fetisch

Als der strahlende Griechenheld Jason der fremden Königstocher in Kolchis begegnet, ist er fasziniert von ihrer wilden und düsteren Schönheit. Und für Medea scheint der Fremde ein Gott zu sein, der spielend ihren sonst so unbeugsamen Willen zerbricht. Wenig später fliehen sie über die Meere, mit an Bord das mit Medeas Hilfe erbeutete Goldene Vlies, das seinem Besitzer als Unterpfand für Sieg und Rache gilt. Diese Trophäe soll Jason sein politisches Comeback in der Heimat ermöglichen. Aber seine Gattin wird als Barbarin stigmatisiert und nirgendwo finden das Paar und seine Kinder Aufnahme. Erst König Kreon von Korinth gewährt seinem Jugendfreund Jason Asyl, und auf dessen Bitte auch seiner Frau. Als jedoch die griechischen Stämme mobil machen gegen das flüchtige Paar und eine Welle der Verleumdung über Medea hereinbricht, entzieht ihr Kreon das Bleiberecht. Jason und die Kinder hingegen werden von ihm in die Familie integriert. Eine Entscheidung mit tödlichen Konsequenzen.
Was als leidenschaftliche Liebe zwischen Medea und Jason, den Vertretern zweier Kulturen begann, endet in Verzweiflung und Selbstentfremdung. Und in einer unerhörten Bluttat.
Franz Grillparzers Stück Medea bildet den dritten Teil und den Schwerpunkt der zwischen 1818 und 1820 geschriebenen Trilogie Das Goldene Vlies.
Im ersten Teil, Der Gastfreund, gelangt das sagenumwobene Widderfell von Delphi nach Kolchis – als Schenkung eines jungen idealistischen Aussteigers, der seiner griechischen Heimat den Rücken kehrt und sich in Kolchis ansiedeln will. Das Vlies, Beutegut aus einem Tempelraub, dient ihm als Eintrittskarte. Aber der König von Kolchis, Aietes, ermordet den Fremden und macht seine kleine Tochter Medea zur Mittäterin. Im zweiten Teil, Die Argonauten, kommt der Grieche Jason nach Kolchis, um den Toten zu rächen und das Vlies zurückzuerobern, das ihm wieder zum Thron seiner Väter verhelfen soll. Im dritten Teil, Medea, wird das Vlies zum Objekt der Begierde für König Kreon, der es als Preis für die Aufnahme der schutzsuchenden Familie einfordert.
Auf magische Weise scheint dieser Fetisch ehrgeizigen Männern, die mit ihm in Berührung kommen, Unterstützung bei ihren Eroberungen zu verheißen. Diese Unternehmungen gründen sich auf koloniale Machtinteressen und Besitzstreben und ziehen zwangsläufig Unheil nach sich. Es sind nicht wenige, die danach gieren, weit über die Grenzen der griechischen Welt hinaus. Insofern ist das Vlies weniger Schicksalssymbol als Prestigeobjekt und Fetisch.
Vergeblich versucht Medea, es gleich nach ihrer Ankunft in Korinth aus der Welt zu schaffen. Nichts aus der blutigen Vergangenheit soll sie mehr belasten; sie ist gewillt nach Monaten und Jahren des Umherirrens und der Abweisung in der neuen Heimat eine Zukunft zu gründen. Und sie will vergessen, was ihr als Kind im Zusammenhang mit dem Vlies widerfuhr. Als sie ein Mädchen war. Als die Fremden kamen. Als es nur den Willen des Vaters gab, dem sie sich zu unterwerfen hatte. Als Liebe ohne Abhängigkeit nicht zu finden war …
Mit der Konstruktion der Vorgeschichte stattet Grillparzer Medea mit Facetten aus, die über das Narrativ der in Liebe zu einem Mann entflammten Fremden und der aus Eifersucht rachebesessenen Kindesmörderin hinausgehen.                                                                                                                           Anna Badoras Inszenierung verwendet einzelne Passagen aus den beiden ersten Teilen der Trilogie. Sichtbar werden die vergeblichen Bemühungen einer Frau um Selbstbestimmung in einer auf Machterhalt orientierten patriarchalischen Welt. Außerdem bildet Grillparzer in seiner Trilogie einen Zustand von Gesellschaft ab, in dem Abgrenzung und Ausschluss bis hin zu fragwürdigen nationalistischen Überlegenheitsgefühlen den Umgang mit allen verunmöglichen, die nicht der jeweiligen „vaterländischen“ Gemeinschaft, dem Stamm, der Kultgemeinde angehören.
Bereits zu seiner Entstehungszeit dürfte das Stück auf die Nationalitätenfrage angespielt haben, die aufziehenden weltanschaulichen, sozialen und kulturellen Konflikte des Vielvölkerstaates der k. u. k. Monarchie. Grillparzer stellt in der Trilogie hybride nationale Überlegenheitsgefühle aus, etwa die der Griechen gegenüber den Kolchern, aber auch das Misstrauen und die reflexartige Abwehr, die der kolchische Herrscher jedem Fremden entgegenbringt, der an seine Grenzen klopft. Dass der Autor Tendenzen dieser ideologischen Aufrüstung an alle Fronten des Stückes verlegt, könnte als Vorwegnahme einer sich zwanzig Jahre später offen zeigenden antinationalistischen Haltung zeigen.
Aus dem Jahr 1849 datiert Grillparzers berühmtes Epigramm:

Der Weg der neuern Bildung geht
Von Humanität
Durch Nationalität
Zur Bestialität.

© Heike Müller-Merten