Opernball (UA)

Uraufführung nach dem Roman von Josef Haslinger
Bühnenbearbeitung von Alexander Charim und Heike Müller-Merten

Besetzung: Rainer Galke, Sebastian Klein, Thomas Frank, Bernhard Dechant, Lukas Watzl, Stefan Suske

Regie: Alexander Charim
Bühne und Kostüme: Ivan Bazak
Dramaturgie: Heike Müller-Merten

Volkstheater Wien 2019

Originalbeitrag für das Programmheft:

Warum musste Fred sterben?

Diese Frage lässt Kurt Fraser, Star unter den Kriegsreportern und seit neuestem in Wien Leiter der Abteilung für Ost- und Zentraleuropa beim privaten Medienkonzern ETV, nicht mehr los. Sie hält ihn gefangen und treibt ihn um. Erst wenige Monate stand Kurt Fraser wieder im Kontakt zu Fred, seinem verlorenen Sohn; gerade hatte er den Ex-Junkie als Kameramann beim Wiener Opernball untergebracht, da musste er ihm vom Regiewagen aus beim Sterben zusehen. Frasers Vater, ein in London lebender österreichischer Emigrant und Bergen-Belsen-Befreier, hatte ihn umsonst gewarnt, in das Land der Täter zurück zu kehren: „Dieses Land ist nie aus seinem Schatten herausgetreten.“ Er sollte Recht behalten. 
Auch Fritz Amon, ein am Opernballtag diensthabender Revierinspektor, kann nicht mehr ruhig schlafen. Denn dass seine Vorgesetzten im Einverständnis mit höchsten Sicherheitskreisen einen Rechtsextremen, der mit den Attentätern im Verbund war, aus den Augen verloren haben und offenbar mehr wussten, als sie zugaben, versetzt ihn in Panik. Und deswegen ist er dem britischen Journalisten gegenüber redseliger, als die Dienstvorschrift erlaubt.
Nach dem Giftgasanschlag auf den Opernball, bei dem fast die gesamte österreichische Regierung umkam, wurden Neuwahlen ausgerufen. Die nationalistische Partei stellt nunmehr den Innenminister …
Erst als Fraser während seiner Recherchen auf den einzigen Überlebenden der Terrorgruppe trifft, fügen sich die Einzelteile zu einem Ganzen. Einer musste überleben, um zu berichten, von der Mission des Geringsten und seiner „Entschlossenen“.
Der Plot von Opernball mutete zur Entstehungszeit des Romans Anfang bis Mitte der Neunziger wie eine Dystopie an. Noch war der Terrorkampf in den Metropolen zur Destabilisierung der Demokratien keine dominante Strategie. Vor allem was die Größe des ausgeführten Anschlags anging, fehlte es noch an Beispielen. 9/11 sollte sich erst sechs Jahre später ereignen. Zwar brannten schon nach 1990 die ersten Asylbewerberheime in Ostdeutschland. In Österreich machte seit 1986 die Volkstreue außerparlamentarische Opposition (VAPO), eine militante neonazistische Gruppe, mit gewalttätigen Aktionen von sich reden, bis sie Mitte der 1990er zerschlagen wurde. Das geschah im Zuge der Ermittlungen zu sechs rassistisch und völkisch motivierten Briefbomben-Anschlägen und mehreren Rohrbombenanschlägen, bei denen insgesamt vier Todesopfer und 15 zum Teil schwer verletzte Menschen zu beklagen waren. Im Februar 1995 wurden vier junge Roma Opfer dieses rechten Terrors im burgenländischen Oberwart. Zunächst gerieten die Bewohner der Community unter Generalverdacht – ein bezeichnender Reflex der Untersuchungsbehörden, wie er auch im Umgang mit den Angehörigen der Opfer der NSU-Morde im Nachbarland Deutschland zu beobachten war. Es gab vermehrt einzelne Anschläge. Rechtsextremes Gedankengut war hoffähig geblieben und Antifaschismus konnte gelegentlich zum Delikt werden, wie z. B. die Geschichte des Journalisten Wolfgang Purtscheller zeigte.
Auch in der Zweiten Republik gab es Berührungspunkte zwischen christlich-katholischen und völkischen Ideen. Noch bevor sich Anders Behring Breivik in Oslo und Utøya mit seinem terroristischen Massenmord an 77 Menschen als Retter einer „christlich-europäischen Ordnung“ stilisierte, hatte Josef Haslinger die Fiktion von einer religiös-faschistischen Terrorzelle entworfen. Ihr Anführer, der sich in manipulativer Absicht „der Geringste unter den Brüdern“ nennt, unterfüttert seine politischen Absichten u. a. mit den Lehren christlich-mystischer Sekten aus dem Mittelalter, den Millenaristen. Danach wird Harmagedon, die endzeitliche Entscheidungsschlacht, radikale Veränderungen in der Gesellschaft in Gang setzen. Der Erlöser erscheint nach dem Tausendjährigen Reich; erst dann kann das Goldene Zeitalter beginnen.
Im Februar 1995 erschien Opernball auf dem Buchmarkt. Am 20. März 1995 verübten Anhänger der Aum-Sekte in Japan während der morgendlichen Rush-Hour einen Giftgasanschlag in der Tokioter U-Bahn. Nach dem Bekenntnis der Täter sollte „Harumagedon“ der Auftakt sein zum nahenden Dritten Weltkrieg. Die Bilanz des Terroraktes: 13 Tote und über 5500 Verletzte. Die Wirklichkeit begann die Fiktion des Romans zu überholen …

© Heike Müller-Merten