Schwere Knochen (UA)

Uraufführung nach dem gleichnamigen Roman von David Schalko
Bühnenbearbeitung von Anita Augustin

Besetzung: Ferdinand Krutzler – Thomas Frank // Fritz Wessely, genannt „Der Bleiche“/KZ- Buchhalter/Dr. Harlacher/Odessajude – Peter Fasching // Hans Praschak, genannt „Der Praschak“/Krutzlervater/Grünbaum alias „Greenham“/Honzo, weiblicher Affe – Sebastian Pass // Karl Sikora, genannt „Der Zauberer“/KZ-Buchhalter/Bote im Auftrag Grünbaums/Gisela, Krüppelhure – Lukas Watzl // Herwig, Sohn der Musch/Wirt/Nazihuber/Dostal, SS Obersturmbannführer/Seibold/Petrow, sowjetischer Hochkommissar/Odessajude – Matthias Luckey // Der alte Schrack/Praschakvater/Geldscheißerfranz/Librettist/Alfred Podgorsky, Polizist/Igor, russischer Besatzer/Odessajude/Ahab, nationalsozialistischer Papagei/Barkeeper im Ray/Pensionist – Andreas Patton // Nonne/Musch, Zuhälterin/Irena, Nummer 3027, Lagerhure/die blonde Weißrussin, Empfangsdame bei Petrow/Pensionistin – Isabella Knöll  // Krutzlermutter/Nachbarin/Mandalcef alias „Der Zehner“, KZ-Kapo/Bregovic, Wirtin vom Gelben Papagei/Der Deutsche, Untergebener von Petrow/Lassnig, Unternehmergattin/Vollzugsbeamtin/Pensionistin – Birgit Stöger // Sikoramutter/Kellnerin/Librettistentochter/KZ-Buchhalter/Gusti, Praschaks Frau/Tosa, japanischer Kampfhund/Freier im Ray/Milady, Spionin/Aida-Kellnerin – Lisa-Maria Sommerfeld 
Musiker: e violin – Matthias Jakisic/Simon Schellnegger // keyboard – Sam Vahdat/Markus Jakisic // drums: Lenny Dickson/Thomas Käfer

Regie: Alexander Charim
Kostüm/Bühnenbild/Video: Ivan Bazak
Komposition: Matthias Jakisic, Sam Vahdat
Musikalische Leitung: Matthias Jakisic
Licht: Julian Paget, Mauritius Luczynski
Dramaturgie: Heike Müller-Merten

Volkstheater Wien 2020

Originalbeitrag für das Programmheft (Auszug):

Tiere und Menschen - Zeitgeschichte von unten

Schon seine Geburt war legendär: Ferdinand Krutzler wog sage und schreibe sechs Kilo, als er in den 1920er-Jahren das Licht der Welt erblickte, und die Krutzler-Mutter sich für die verpasste Abtreibung verfluchte. Mit zwölf Jahren beging er seinen ersten Mord, aber vielleicht war der Krutzlervater auch nur blöd ins Messer gefallen, als er besoffen heimkam und Frau und Kind verprügelte. In jedem Falle begann hier die beispiellose Karriere des späteren Notwehr-Krutzler. In Erdberg, wo der Straßenname mehr zählte als der Familienname, lernte er sie kennen, seine Spezis: den bleichen Wessely, den schlaksigen Sikora und den fleischigen Praschak. Und die Musch, das ebenso begehrte wie frühreife Früchtchen, bald die Königin des Rotlichtmilieus.
Im Zwischenkriegs-Wien räumten die vier Jungspunde unter dem Label „Erdberger Spedition“ Wohnungen aus und erwirtschaften sich damit ein leiwandes Leben. Bis zu jenem 15. März, als bei „Kaiserwetter!“ in Wien die volle Aufmerksamkeit der Wiener ihrem neuen Führer am Heldenplatz galt. Währenddessen evakuierte das tollkühne Gangster-Quartett die Wohnung vom stadtbekannten Nazihuber. Besenrein. Der Coup allerdings brachte dreien von ihnen sieben Jahre ein: Dachau. Und Mauthausen.
Im Konzentrationslager erlebte der Krutzler seine zweite Geburt. Als Kapo half er, den KZ-Betrieb am Laufen zu halten, und dabei lernte er alles, was ein unmenschliches System an unvorstellbarer Grausamkeit zu bieten hatte. Solcherart ausgerüstet kehrte Ferdinand Krutzler ins zerbombte Wien zurück und avancierte zum König der Unterwelt.
Nach dem großen Krieg war das große Schweigen ausgebrochen. „Zuviel musste jeder am anderen vergessen machen“, wie Sikora sagte. Die vier Erdberger hatten überlebt und formierten sich neu. Sie scheuten nicht zurück vor brutalen Rachemorden in höherem Auftrag. Die Sozialpartnerschaft zwischen Kriminellen und Polizei hatte im Lager begonnen und trug auch danach Früchte. Der allgegenwärtige Mangel eröffnete zusätzlich völlig neue Geschäftsideen. Unter den Augen der Besatzungsmächte zogen die vier Männer einen Schmuggel auf, in großem Stil. Auch die Musch hatte im Krieg gelernt, und zwar, dass es für das Gunstgewerbe keine Männer braucht. Jedenfalls nicht als Strizzis. Nur als Kunden.
Mit dem Wirtschaftswunder kam der Wohlstand; der entzog dem Schmuggel die Grundlage. Die Entnazifizierung stockte, aber der Staatsvertrag machte Fortschritte. Während Krutzlers Imperium ohne Erbe blieb, drängten Konkurrenten aus den ehemaligen Kronländern auf den Markt, und mit ihnen neue Substanzen von so ungeahnter wie nachhaltiger Wirkung. Bald waren die ungeschriebenen Regeln der großen Verbrecher-Galerie das Blut nicht mehr wert, das es kostete, sie dem Gegner in die Haut zu ritzen. Und spätestens hier stellte sich auch dem großen Krutzler die Frage: Wovon lebt der Mensch? Und wofür? Wenn „Österreich damals im KZ entstanden ist“, so ging Krutzler an den Spätfolgen zugrunde.
David Schalko entwarf in seinem vierten und jüngsten Roman über vier Jahrzehnte ein Pandämonium Austriacum vor großer zeitgeschichtlicher Kulisse, in dem die bösen Geister einer ganzen Nation fröhliche Urständ’ feiern. Anschluss, Weltkrieg, Alliiertenherrschaft in der Viersektorenstadt, Wirtschaftswunder, Staatsvertrag (…)

© Heike Müller-Merten